In der Woche nach Ostern 2013 haben wir auf Initiative von Marie Anne Paepe aus Brugge mit einer Gruppe von 33 Teilnehmern die Kathedrale von Chartres besucht. In 2014 und in 2019 haben wir in der Woche bevor Ostern mit einer neuen Gruppe die Kathedrale wieder besucht. Ich habe am Donnerstagabend in einem Raum des hinter der Kathedrale gelegenen Hotels St. Yves einen einleitenden Vortrag gehalten. Dann haben wir am Freitag die Kathedrale besucht, mittags unsere Erfahrungen ausgestauscht und dann nochmals die Kathedrale besucht. Abends haben wir mit der ganzen Gruppe eine außerordentlich gesellige Mahlzeit genossen. Am Samstagmorgen habe ich einen abschließenden Vortrag gehalten, nach dem wir wieder nach Hause abreisten. Im Folgenden wird die Grundlage für diese Reise nach Chartres beschrieben. Ich habe darüber in Hamburg, Amsterdam und Breda Vorträge gehalten. Der Besuch in Chartres, wo wir das Thema an Ort und Stelle besprechen konnten, bildete einen Höhepunkt.
Anlässlich der Vorträge in Hamburg schrieb ich die folgende kurze Zusammenfassung.
‘Das ist dasjenige, was ich Ihnen heute sagen wollte, meine lieben Freunde, über die ganz andersartige Erfahrung, die wir haben, wenn wir in der geistigen Welt sind, als hier in der physischen. Und doch wiederum hängen die Dinge zusammen. Aber sie hängen so zusammen, daß wir ganz umgestülpt sind. Wenn wir hier den Menschen so umstülpen könnten, daß wir sein Inneres nach außen wenden würden, daß also zum Beispiel das Innere, das Herz dann die Oberfläche des Menschen wäre - er würde dabei nicht leben bleiben als physischer Mensch, das können Sie ja glauben -, aber wenn man ihn umstülpen könnte, im Herzen innerlich anfassen und ihn so wie einen Handschuh umstülpen, dann bliebe er nicht ein solcher Mensch, wie er hier ist, dann vergrößerte er sich zu einem Universum. Denn wenn man sich in einem Punkt ins Herz hinein konzentriert und dann die Fähigkeit hat, im Geiste sich selber umzustülpen, dann wird man diese Welt, die man sonst erlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das ist das Geheimnis des menschlichen Inneren, welches nur in der physischen Welt nicht nach außen gestülpt werden kann. Aber das menschliche Herz ist eine umgestülpte Welt auch, und so hängt wiederum zusammen die physische Erdenwelt mit der geistigen Welt. Wir müssen uns gewöhnen an dieses Umstülpen. Wenn wir uns nicht daran gewöhnen, so bekommen wir nie eine richtige Vorstellung von dem, wie sich eigentlich die hiesige physische Welt zu der geistigen Welt verhält.’
(Rudolf Steiner, Das Geheimnis der Trinität, Vortrag vom 22.8.1922,Oxford, GA 214)
Dieses Zitat Rudolf Steiners findet sich in Hans Bonnevals Buch ‘Umstülpung als Schöpfungs- und Bewusstseinsprinzip’ (Verlag Ch. Möllmann, 4. Auflage 2008). Es veranlasste mich, wirklich intensiv zu versuchen, mir die Umstülpung des Herzens so lebendig und kräftig wie nur möglich vorzustellen.
Zuerst muss man sich darauf besinnen, wie sich das Bewusstsein des Menschen, dem Gefühl nach, im Herzen befindet. Wenn man also mit einer Übung beginnt, ist doch das erste, was man tun will, sich eine Vorstellung davon zu bilden, wie das Bewusstsein auf Erden sehr zentral im Menschen ‘lokalisiert ist’, und wie es so umgestülpt werden kann, das dasjenige, was Innen ist, Außen wird, und was Außen ist, Innen wird. Wenn man auf diese Weise meditativ versucht, sein inneres Selbstgefühl ganz umzustülpen, dann tritt eine Gewahrwerdung auf, die nicht so leicht zu ertragen ist. Denn der ‘Ich-Punkt’ muss Umkreis werden, und alles, was man ‘Nicht-Ich’ nennen kann, muss Punkt werden oder in jedem Fall vom ‘Ich- Umkreis’ umschlossen werden.
Wenn man dann jedoch durch Rudolf Steiner einige Einsicht über das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt empfangen hat, dann tritt etwas Großes in das Bewusstsein. Man bekommt eine Ahnung davon, wie das Herz eigentlich Sonne ist und wie man sich nach dem Tod, wenn man die Sonnensphäre betritt, so ausgebreitet hat, dass das Ich sich ganz hingegeben hat. Die Gewahrwerdung des Selbst nimmt eine ganz andere Art an. Es erstreckt sich weiter nach oben und wird Musik. Man ist nicht mehr ‘selbst’, sondern ganz Ton, in sphärischer Harmonie mit anderen Tönen. Das Ich ist Außen, der Geist wird Musik, nimmt seine eigene Form an.
Aber die Ausdehnung geht noch weiter. Die Musik war noch ein Sonnenerleben, doch nun steigt man auf zu Mars, wo die klingende Musik bedeutungsvoll zu erklingen beginnt, sie wird Wort. Und man wird sein eigenes Wort, wird selbst ganz Wort, Bedeutung im Weltall. Die Arbeit am zukünftigen Leib erklingt hier als musikalisches Wort, und dies vergeistigt sich noch mehr, wenn es sich bis zum Jupiter ausbreitet. Denn Jupiter formt das Wort zum Weltgedanken, und man lebt musikalisch sprechend in Gedanken weiter, ja man ist selbst ein sprechender musikalischer Gedanke und lebt inmitten dieser nur zu erahnenden Welt.
Dann breitet sich die Sphäre noch weiter aus, man fühlt sich in der ganzen Welten- und Menschheitsentwicklung darinnen, indem das Weltendenken die Weltenerinnerung aufnimmt, ja wird. Saturn schenkt diese Umformung des bereits völlig umgestülpten Bewusstseins.
Wenn sich der Mensch auf Erden mit Christus verbunden hat, kann er noch über Saturn hinaussteigen, bis in die Mitternachtsstunde des Daseins, wo er die Impulse aufnimmt und formt, um in einem neuen Erdenleib den Geist finden zu können und auch verkündigen zu dürfen. Dann geht es wieder hernieder, und der im Geist lebende Mensch muss sich allmählich die Erhabenheit der Weltenerinnerung, der Weltgedanken und des Weltenwortes zueigen machen, sich allmählich aus der Seligkeit lösen und nach einem neuen ‘Punkt- Ich’ streben.
Dies geschieht, wenn er nach unten die Sonne erreicht. Da stülpt sich das kosmische Herz wiederum um, nun jedoch, um das Selbst aufzunehmen, um selbstständig zu werden und um beim Herabsteigen immer mehr die geistige Seligkeit, in all ihrer Verschiedenheit, zu vergessen. Das Bewusstsein wird märchenhaft, schlafend, es wird aus der Lethe getrunken. Dieser Prozess beginnt bei der Sonne, der Abschied von der himmlischen Harmonie und das Einleben in eine neue Persönlichkeit.
Das Zweite, was man probieren kann, ist, eine Umstülpung des Herzorgans auszuführen – in meditativen Gedanken. Das ist eine ganz andere Wirksamkeit als die zuvor beschriebene, denn man darf jetzt nicht nur denkend und fühlend vorstellen, sondern muss es anschauend und in Bewegung tun, in einer Umstülpungsbewegung. Die Schwierigkeit dabei ist, dass das Herz nun einmal nicht eine reine Kugelform hat, sondern eine komplizierte Vierteilung, wobei die Innenwand nicht glatt ist. Diese Innenwand muss nun nach außen kommen, und die Septen, die die Herzkammer in vier Kammern unterteilen – zwei Atrien und zwei Ventrikel –, müssen so vorgestellt werden, dass sie beim Einstülpen wiederum den richtigen Platz erhalten. So anschauuend vorzustellen, bedeutet eine große Anstrengung.
Das Herz besteht aus vier Hohlräumen:
Nun darf man bei einer solchen Umstülpung nicht denken, dass man es so exakt wie bei einem geometrischen Körper machen kann. Da wird zwar Innen Außen und Außen Innen, aber die Vergeistigung tritt nicht ein. Hier, beim Herzen, tritt man in die geistige Welt ein, und es geschieht etwas, das mit dem vergleichbar ist, was im ersten Teil beschrieben wurde. Das ganze innere Leben gelangt außerhalb des Herzens, und die ganze Umgebung, bis zu den Sternen, gelangt in das Innere des neuen Bauwerkes.
Wenn man sich auf die Septen und die Herzklappen konzentriert, auf die Klappenmuskeln (die Papillarmuskeln), die sich in die Ventrikel erstrecken, und man versucht, diese Struktur zur Außenwand zu machen, dann bekommt man ein Bauwerk, bei dem die Septen sich als ein Kreuz über der Außenwand entfalten; die Muskeln geben eine Art ‘Randwerk’ an der Außenseite.
In der Meditation formte sich dieses Bild und wurde zu einer gotischen Kathedrale, wie ich sie in Chartres einige Male wahrgenommen habe. Ein solches ‘Sehen’ geschieht als eine Art plötzliche Einsicht, die nicht nur das Bild gibt, sondern zugleich auch die Bedeutung. Denn man ‘sieht’ dann zugleich, wie die Kathedrale wirklich ein Versuch ist, den Menschen, wie er zwischen Tod und neuer Geburt ist, erlebbar zu machen, wie unvollkommen es auch sei.
Natürlich ist eine solche Konstruktion zu starr und zu leblos, um auch nur annähernd in die Nähe dieses Zieles zu kommen. Doch die Außenseite der Kathedrale ist dem Gefühl nach, anschauend erlebt, die umgestülpte Innenseite des Herzens, und das Innere der Kathedrale zeigt den Kosmos, so wie der Mensch nach dem Tod, vor der Geburt, sich diesem gleich macht.
Wenn man die Kathedrale auf diese Weise betrachtet, muss man die Portale mit Ehrfurcht durchschreiten – denn man betritt die geistige Welt. Die Portale haben auch alle die Läuterung der Seele zum Thema, wenn auch auf verschiedene Weise. Ist man einmal in der Kathedrale, also in der geistigen Welt, dann ist das Innere ein völlig umgestülpter Mensch. Das Gehirn findet man auf dem Boden in Form des Labyrinths.
Rudolf Steiner hat beschrieben, wie das Labyrinth in Knossos ein Bild für den Verstand ist, der sich irren kann. Ariadne ist das reine Denken, das Theseus in Form eines Bindfadens ins Zentrum mitnimmt. Innerlich überwindet er den Minotaurus, und dank dieses Fadens kann er den Weg zurück nach draußen finden. Das Labyrinth von Chartres hat die gleiche Form wie das Labyrinth in Knossos.
Das Licht der Außenwelt strömt voller Farben durch die wunderbaren Glas-Blei-Rahmen hinein, die man nirgendwo sonst so finden kann wie in Chartres. Die Formen scheinen sich von Fenster zu
Fenster zu metamorphosieren, sie umfassen eine Akasha-Chronik; die ganze geistige Geschichte der Erde ist dort abgebildet.
So kann man fortfahren. Das große Rosenfenster der Westfront verweist auf das himmlische Jerusalem aus der Apokalypse des Johannes.
Hier ist der Mensch vollkommen geworden. Dies hat man in der Kathedrale nachzubilden versucht. Der Mensch in der Mitternachtsstunde des Daseins, in der er seinem zukünftigen Leib reine Form gegeben hat und in der er in Übereinstimmung mit dem himmlischen Jerusalem lebt.